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Stellen Sie sich einen Manager vor, vielbeschäftigt, im schicken Anzug, als Galionsfigur von Konferenz zu Konferenz jettend, Aufgaben wie Finanzbudgets, Implementierung neuer Arbeitsprozesse, Ressourcenverteilung, Verhandlungs- oder Personalführung lösend. Und dann erzählt ihm seine Frau plötzlich vom inneren Kind. Oder noch schlimmer, nicht seine Frau spricht ihn darauf an, sondern eine Therapeutin. Denn in seiner Ehe kriselt es seit längerem schon oder aber er landet wegen Burnout in einer psychosomatischen Klinik. Und plötzlich soll er sich mit dem inneren Kind auseinandersetzen? Also bitteschön, das ist doch Kinderkram! Hier geht es schließlich um wichtigere Dinge: Er muss so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen, seine Firma kann nicht ohne ihn und seine Ehe muss funktionieren. Und überhaupt, Frau Therapeutin oder Herr Therapeut, wer sind Sie eigentlich? Und welchen Abschluss haben Sie? Kommen Sie mir bloß nicht mit irgendeinem esoterischen Jodeldiplom, ich möchte wissenschaftlich erprobte Therapieansätze. Inneres Kind, so ein Quatsch! Können wir jetzt mit wirklich wichtigen Dingen beginnen? Schnell und effektiv soll es sein!
Aber sicher, Herr Manager, das können wir! Wir beginnen am besten gleich einmal mit ihrer Skepsis. Die ist grundsätzlich ja auch gesund. Doch in diesem Fall, leider nein, das Innere Kind existiert wirklich, und nicht erst seit gestern. In einem Gespräch mit Dipl.-Psych. Silvia Steger-Kaspar aus München erfahre ich, wie wichtig das Innere Kind fürs Glücklichsein ist.
Mit dem im Jahre 1992 erstmals erschienenen Buch „Die Aussöhnung mit dem inneren Kind“ von Dr. Erika Chopich und Margaret Paul gewinnt der Begriff des Inneren Kindes zunehmend an Bedeutung. Die beiden Psychotherapeutinnen haben die Therapieform bzw. das psychologische Modell des sogenannten inner bondings, der inneren Bindung entwickelt. Hier dreht sich alles um das Kind im Erwachsenen. Aufgrund bestimmter Erfahrungen in der Kindheit beginnen wir entsprechende Glaubensmuster zu entwickeln. Und durch diese Brille blicken wir als Erwachsener dann auf unsere Welt. Das bedürftige, schutzlose innere Kind lebt weiter in uns und bestimmt unsere Gefühlslage und unser Verhalten. Der autonome starke Erwachsene in uns kommt dann oft gar nicht zum Zuge. Dies kommt der Aufgabe des eigenen Selbst gleich und führt zu jeder Menge Probleme.
Inzwischen ist die Vorstellung des Inneren Kindes für viele nicht mehr neu. Zahlreiche Bücher und Arbeitsbücher lichten den Vorhang des unbewussten Dilemmas und versprechen Hilfe zum Glücklichsein.
Was für den Manager erst mal befremdlich klingt, ist für andere schon lange ein Begriff, der ihr Leben prägt. Wie z.B. die Büroangestellte Marion H., 47 Jahre. Sie spricht mehrmals täglich mit ihrem Inneren Kind, frägt es nach seiner Meinung, nach seinen Wünschen und seinen Bedürfnissen. Und wenn sie sich z.B. wieder einmal nicht entscheiden kann, ob sie mit Freunden bei der Seerundfahrt mitmachen soll oder doch endlich einmal ihr neues Wildkräuter-Gartenbeet angehen soll, dann wendet sie sich an ihr Inneres Kind. Solange bis sie genau weiß, was sie gerade braucht. Manchmal ist es das Bedürfnis nach Gesellschaft, so wie letztens als sie sich für den Kinobesuch entschied. Ein andermal gibt sie ihrem Ruhebedürfnis Raum und sagt die Teilnahme beim großen Familientreffen ab. Ganz ohne schlechtes Gewissen. Das wäre ihr vor ein paar Jahren noch nicht möglich gewesen.
Sprechen Sie gern über Gefühle? So zentral der Begriff des inneren Kindes inzwischen in der Psychotherapie und auch Körpertherapie ist, so wenig findet er noch Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch. Über Gefühle sprechen wir meist nicht so gerne. Über Bedürfnisse schon gleich gar nicht. Angesagt sind die großen Gefühle berühmter Persönlichkeiten. Da können wir nicht genug davon bekommen. Der Reiz liegt hier eher in der Theatralik, weniger im stillen, oft unscheinbaren Ausdruck inneren Erlebens. Warum finden wir es so spannend, wenn ein Politiker die Fassung verliert, ein Schauspieler in einem Interview in Tränen ausbricht, in einem Film Männer ihr tiefstes Inneres ihrer Angebeteten offenbaren? Ist es unsere Sehnsucht nach Gefühlen? Wie können wir selbst gefühlvoller werden?
Warum weinen wir so oft und gern bei Filmen? Schuld daran sind unsere Spiegelneuronen. Dank ihnen können wir uns in die Lage des Filmcharakters versetzen und empathisch mitempfinden. Wer seinen Tränen freien Lauf lässt, fühlt sich erwiesenermaßen anschließend wunderbar. Wer es nicht tut und seine Gefühle unterdrückt, dem geht es schlecht dabei. Im Film haben wir sozusagen die Lizenz zum freien Lauf der Gefühle. Nicht so in der eigenen Biographie. Es ist den meisten von uns abtrainiert worden. Wir sind Meister der Angepasstheit, der erlernten Freundlichkeit oder der gezügelten Empörung. Viele bringen nur selten zum Ausdruck was sie wirklich innerlich bewegt. Wenn ein Unbekannter oder auch ein Kollege in Tränen ausbricht, wissen Menschen oft nicht adäquat zu reagieren. Weil sie mit dem Ausmaß der Gefühle überfordert sind. Wenn im Außen plötzlich etwas auftaucht, was wir selbst unterdrückt haben, wird es schwierig. Nur wer echtes Mitgefühl erfahren hat, kann auch schmerzhafte Gefühle zulassen. Die richtigen Filme können uns dabei helfen, unser Mitgefühl zu trainieren. Indem wir uns in die Lage der Person auf der Leinwand hineinversetzen, erfahren wir selbst Mitgefühl.
Im Vergleich fällt es Männern eher schwer, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wurde ihnen doch beigebracht, dass Weinen etwas für Schwächlinge ist und man sein Innenleben besser mit sich selbst ausmacht. Wie soll sich also unser Manager etwas vorstellen, das in seiner Alltags-Begrifflichkeit gar nicht vorhanden ist? Worüber er nie nachgedacht hat? Was in seiner Wahrnehmung nicht einmal annähernd existiert? Und wenn, dann wird es unter Umständen sofort mit dem Stempel der Sinnlosigkeit versehen.
Ja, eine der Hürden in der Annäherung mit dem Inneren Kind ist tatsächlich unsere mangelnde Vorstellungskraft. Wie kann ich etwas imaginieren, was mir gänzlich unbekannt ist? Frau Dipl.-Psych. Steger-Kaspar aus München erklärt, wie wichtig es für manche ihrer Patienten sei, erst einmal den Weg zum Inneren Kind gedanklich und vom Verständnis her frei zu räumen. Erklärungsmodelle brauche es unterschiedliche, denn jeder Mensch habe einen anderen Zugang.
Immer drehe es sich beim Inneren Kind um die eigenen Gefühle und Bedürfnisse. Dabei sei es wichtig, dass ihre Patienten sich auch zwischen den Sitzungen mit der Thematik beschäftigen, dass sie Bücher lesen, sich mit dem eigenen Inneren auseinandersetzen, in Selbstreflektion gehen. Und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen. Das innere Kind macht nämlich nicht halt vor der Bürotür. Es bleibt nicht draußen und hält vor dem Meetingraum an. Es geht mit zum Steuerberater, zum Frisör, zum Skilaufen, zur Hochzeitsfeier, zur Beerdigung, zur Gerichtsverhandlung – ganz egal, es ist immer dabei. Das heißt, es wäre gerne dabei! Viele ihrer Klienten haben große Bereiche des inneren Kindes abgespalten meint Frau Steger-Kaspar. „Deshalb fällt es ihnen zunächst auch einmal schwer, mit ihm in Kontakt zu treten. Sie können keine emotionale Bindung zu ihm aufbauen.“
Klar, versteht sich, wie soll ich etwas lieben, was ich gar nicht kenne und was nicht einmal bei mir ist? Doch irgendwann war es ja wohl einmal bei mir, oder? Also kann ich es auch wiederentdecken.
Das Konzept des Inneren Kindes ist deshalb ein so geniales, weil es für den einzelnen eine Art Notfallkoffer bedeutet, meint Frau Steger-Kaspar. In ihrer Therapie ist das Innere Kind ein ganz zentraler Dreh- und Angelpunkt. Denn was bringt uns mehr in Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit als uns einer Situation ausgeliefert zu sehen ohne Lösung?
Wer hat nicht schon eine völlige Handlungsunfähigkeit erlebt? Die Unfähigkeit, eine Entscheidung treffen zu können oder einen Schritt weiter zu gehen? Wir brauchen das stärkende Gefühl, etwas tun zu können, etwas bewegen zu können um aus der momentanen Dunkelheit oder Orientierungslosigkeit wieder ins Licht zu finden. Sich selbst in Krisen helfen zu können macht den Einzelnen zu einem Helden. Wer schon erlebt hat, dass es möglich ist, sich aus eigener Anstrengung heraus aus einer Krise zu befreien, erstarkt im Bewusstsein seiner eigenen Macht. Sein Selbstwert wächst und das Zutrauen in sich selbst ebenso. Damit einhergehend wird die Bedrohung durch eine Krise, die Angst vor einem eintretenden Ereignis geringer.
Die zunehmende Verbindung zum Inneren Kind zeigt daher auch jeden Therapiefortschritt an. Gerade in Bindungs- oder Verlusttraumen, ist die Arbeit mit dem Inneren Kind das wichtigste Element. In einem solchen Trauma wird die eigene Welt als bedrohlich erlebt, ausgelöst durch seelisch-körperlichen Missbrauch, durch Verlust oder die emotionale Unerreichbarkeit eines Elternteils oder einer wichtigen Bezugsperson. In Folge verliert der einzelne Zugang zu seinen eigenen Gefühlen, spaltet die schmerzlichen Erfahrungen ab und setzt anstelle von unmittelbarem Fühlen gedankliche Interpretationen einer Wahrnehmung. Als Erwachsene verwechseln sie dann Fühlen mit gedanklicher Bewertung. Oder sie behaupten von sich, keine Gefühle zu haben. Und diese können sie dann auch nicht bei anderen oder ihren eigenen Kinder wahrnehmen.
Manche Menschen führt die frühkindliche innere Hilflosigkeit in eine chronische Abhängigkeit als Erwachsener. Die Vorstellung, alleine zu sein und auf niemand anderen Rat und Anweisung zu setzen, mutet sich bedrohlich an. Dabei ist diese Angst und das Gefühl, verlassen zu sein, nichts als das unerlöste Gefühl des Inneren Kindes. Es ist nicht die wahre Realität im jetzigen Moment – auch wenn es sich für den Betroffenen so anfühlt. „In dem Moment, wo der Patient seinen Selbsthilfe-Notfallkoffer erobert hat, weiß er wie er für sein Inneres Kind stark sein und es aus der Isolation herausholen kann. Er kann dann Kontakt zu ihm aufbauen. Er kann erfahren, was los ist. Er weiß dann, was er tun kann. Und das bringt ihn aus der Ohnmacht heraus“ erklärt Frau Steger-Kaspar.
Ich frage Frau Steger-Kaspar, woran sie denn in ihrer Praxis erkenne, dass ein Patient Fortschritte in Sachen Inneres Kind mache? Die Antwort ist ermutigend, denn sie ist das, was wir uns alle wünschen, von uns selbst, aber besonders auch in Beziehungen: Dass wir besser über unsere Gefühle sprechen können! Wer also in Worte fassen kann, was ihn innerlich bewegt und wer sich traut, dies seinem Gegenüber mitzuteilen, punktet beim anderen. Und es zeugt von einer guten Verbindung zum Inneren Kind, seine Gefühle besser benennen zu können. Aus dem einstigen gut und schlecht werden plötzlich gefühlvolle Nuancen wie sehnsüchtig, lustvoll, verlegen, resigniert, minderwertig, im Stich gelassen, behaglich, verspielt und viele mehr. Und damit kann auch der andere besser orten, wo wir gerade stehen. Gefühle zu identifizieren bedeutet auch, verständnisvoller mit sich und Situationen umgehen zu können. Obgleich ja alles, was wir wahrnehmen immer im Hier und Jetzt stattfindet – also auch die Erinnerung sich im Hier und Jetzt abspielt, entführt uns das Erwachen des Inneren Kindes ein Stück weit auf eine Zeitreise.
Patienten beginnen mehr und mehr über ihre Kindheit zu erzählen, berichtet Frau Steger-Kaspar. Sie erinnern sich plötzlich an kleine Details ebenso wie an große einschneidende Ereignisse. Es ist das emotionale In Kontakt Treten mit dem Vergangenen, was ihnen ermöglicht, das Innere Kind aus seinem Schattendasein zu befreien. Gerade Traumen, die einst im Keller abgespaltener Gefühle verbannt waren, beginnen, im Gedächtnis wachgerufen zu werden und kommen emotional ins Bewusstsein. An diesem Punkt bedarf es einer guten therapeutischen Begleitung und der richtigen Vorgehensweise. Der Patient soll nicht retraumatisiert werden, sondern seine eingefrorenen Gefühle ins Fließen bringen und Kraft seines Verstandes neue lebensbejahende Glaubenssätze verankern. Ein notwendiger Schritt zur Lösung.
Viele Menschen schrecken erst einmal davor zurück und fragen sich, wozu es sich denn lohne, den Deckel alter Schreckgeschichten zu lüften. Frau Steger-Kaspar meint dazu: „Es lohnt sich allemal. Denn wenn ich weiß, was ich früher erlebt habe und wie ich damals gefühlt habe und was ich infolge vielleicht aufgehört habe zu fühlen, dann kann ich dies in Beziehung setzen zum aktuellen Geschehen. Ich erkenne besser und schneller, was meine heutigen Probleme mit früher zu tun haben. Ich werde das Leid, den Schmerz und den Stress meines Inneren Kindes sehen können. Und je mehr ich lerne, für mein Inneres Kind liebevoll zu sorgen, desto größer sind die Fortschritte und Veränderungen. Plötzlich tue ich etwas, was ich früher niemals getan hätte. Da ertappe ich mich plötzlich dabei, einem Menschen etwas Persönliches zu erzählen, oder ich wage es, nein zu sagen, ich beginne, Ratschläge anderer zu überprüfen und spüre hin, ob es wirklich für mich passt. Vielleicht fordere ich auch meinen Partner zu einem Gespräch auf und sage ihm, was ich mir wünsche und womit ich unglücklich bin. Wie auch immer es sich zeigt, ich werde mich selbst mit einem neuen ungewohnten Verhalten überraschen!“
Was bewegt eigentlich einen Menschen, sich auf die Suche nach dem eigenen Inneren zu machen? Was ist der Auslöser für diese bewusste Kontaktaufnahme mit dem inneren Kind? Frau Steger-Kaspar kennt unzählige Fälle, angefangen von Beziehungskrisen, Jobveränderungen, seelischen Verstimmungen, Orientierungslosigkeit bis hin zu den eigenen Kindern. Denn meistens meint sie, beginne die Begegnung mit dem eigenen inneren Kind wenn es mit den leiblichen Kindern Ärger gibt. Entweder weil es beim Stillen nicht klappt, weil die Eltern genervt sind, weil das Kind sie wütend und ärgerlich macht oder weil das Kind sehr auffällig ist. In dem Fall dürfen dann gleich die Eltern mit aufs Therapiesofa. In Familien sei das oft wie ein Überaschungsei, meint sie. „Da geschehen ganz unerwartete Dinge. Manchmal, wenn Kinder mit ihren Eltern gemeinsam zur Sitzung kommen und die Dinge aufs Tablett bringen, sehen Eltern oft zum ersten Mal, wie es dem eigenen Kind geht. Da sitzt es und weint. Oder ist wütend, enttäuscht, fühlt sich im Stich gelassen, nicht verstanden. Eben wie es einem unglücklichen inneren Kind gehen kann. Und dieses Zur Schau treten vermag manchmal Wunder zu bewirken. Da berichten dann Patienten, dass das Verhältnis zu den Eltern plötzlich viel besser sei, dass der Vater aus unerklärlichen Gründen keine seiner sarkastischen Bemerkungen mehr mache und dass die Mutter sie seit langem wieder einmal richtig umarmt habe.“
Klingt einfach und wirkt! Es scheint, als brauche es manchmal einfach eine Portion Mut und einen guten Raum mit einer unparteiischen dritten Person um das zu ermöglichen, was unsere Konflikte lösen kann: Gefühle zum Ausdruck bringen, gegenseitig zuhören, den anderen sehen und wahrnehmen, alle an einer Situation Mitbeteiligten an einen Tisch bringen.
Ein echtes Plädoyer für die Begegnung mit unserem inneren Kind, finde ich!
Herzlichen Dank an Frau Dipl.-Psych. Steger-Kaspar für das aufschlussreiche, erfrischende Gespräch und die vielen Informationen.
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